Teil 2: Bindung als Schlüssel in der Ausstiegshilfe

Teil 2 der Blogreihe zu Bindung, Trauma und Freiheit – Warum der Weg aus Prostitution und Gewalt über Beziehung führt 

Teil 1: Warum Betroffene in Ausbeutung bleiben – Bindung, Kontrolle und Trauma-Coercive Bonding 
Erklärt, wie Bindungstrauma entsteht und warum es so schwer ist, sich zu lösen.

Teil 2: Bindung als Schlüssel in der Ausstiegshilfe – Heilung braucht sichere Beziehungen 
Zeigt, wie Bindung in der therapeutischen und sozialen Arbeit zur Grundlage nachhaltiger Befreiung wird.


Der Weg in die Freiheit führt über Bindung 

Wer in Ausbeutung und Gewalt festgehalten wurde, hat gelernt, dass Nähe gefährlich ist. 
Viele Überlebende von Prostitution, Menschenhandel oder organisierter Gewalt tragen ein tiefes Misstrauen in sich – gegenüber anderen und oft auch gegenüber sich selbst. 
Und doch ist genau das, was im Trauma zerstört wurde, der Schlüssel zur Heilung: Bindung. 

Bindung ist nicht nur ein psychologisches Konzept. Sie ist ein zutiefst menschlicher Prozess – das Gefühl, in Beziehung gehalten zu sein, sicher und gesehen zu werden. 
Für Menschen, die Gewalt unter Zwang erlebt haben, ist Bindung zugleich der Ort der größten Verletzung und der größten Hoffnung. 

Warum Heilung ohne Bindung nicht funktioniert 

Forschung und Praxis zeigen deutlich: Betroffene mit sogenanntem Trauma Coercive Bonding (TCB) oder traumatischer Bindung benötigen nicht in erster Linie Konfrontation oder rationale Aufklärung, sondern Beziehungsheilung. 

Die Studie von Chambers et al. (2024) beschreibt, wie tief traumatische Bindungen das Selbstbild, die Wahrnehmung und die Fähigkeit zu Vertrauen verändern. Viele Betroffene schämen sich, ihren TäterInnen nachzutrauern oder sie gar zu vermissen – obwohl sie wissen, wie viel Leid ihnen zugefügt wurde. 
In der Psychotherapie oder Ausstiegshilfe zeigt sich diese Ambivalenz häufig in Rückfällen, Beziehungsabbrüchen oder Selbstabwertung. 

Doch diese Reaktionen sind kein Zeichen von Unwillen, sondern Ausdruck einer zerstörten inneren Bindungslogik: 
Das Nervensystem hat gelernt, dass Sicherheit nur in Verbindung mit der Täterperson möglich ist – auch wenn sie gleichzeitig Quelle der Angst ist. 

Die Bedeutung sicherer Beziehungen in der Ausstiegshilfe 

In der Arbeit von Mission Freedom begegnen wir dieser Dynamik regelmäßig. 
Menschen, die in der Prostitution ausgebeutet wurden, bringen nicht nur körperliche, sondern auch tiefe seelische Wunden mit. 
Was sie am dringendsten brauchen, ist ein Raum, in dem Bindung neu erfahren werden darf – ohne Bedingungen, ohne Druck, ohne Manipulation. 

Traumasensible Ausstiegshilfe bedeutet: 

  • Sicherheit und Vorhersagbarkeit statt Überraschung und Kontrolle. 
  • Langsamkeit statt Drängen. 
  • Beziehung statt Belehrung. 
  • Ein Gegenüber, das bleibt – auch dann, wenn Nähe Angst macht. 

Fachkräfte und Ehrenamtliche, die in diesem Feld arbeiten, brauchen dafür ein tiefes Verständnis für Bindungstrauma. 
Denn der Impuls, „helfen“ zu wollen, kann schnell unbewusst Täterdynamiken wiederholen – etwa wenn Grenzen unscharf werden oder emotionale Reaktionen der Betroffenen als „undankbar“ interpretiert werden. 

Vom Trauma zur sicheren Bindung 

Therapeutisch betrachtet geht es im Ausstieg darum, dass Betroffene wieder lernen, Bindung zu sich selbst und zu anderen als sicher zu erleben. 
Das geschieht oft über drei zentrale Schritte 

Stabilisierung: 
Aufbau von Sicherheit, Routinen, körperlicher Orientierung. 
Erst wenn das Nervensystem nicht mehr permanent in Alarmbereitschaft ist, kann Vertrauen entstehen. 

Beziehungsarbeit: 
Wiedererlernen von Nähe, Vertrauen und Konfliktfähigkeit. 
Fachkräfte werden zu „sicheren Bezugspersonen auf Zeit“ – sie bieten Halt, ohne zu vereinnahmen. 

Selbstermächtigung: 
Rückgewinnung der eigenen Handlungsfähigkeit – das Gegenteil von dem, was TäterInnen zerstören. 
Betroffene sollen wieder erleben: Ich darf entscheiden. Ich habe Einfluss. Ich bin mehr als mein Trauma 

Bindung heilt, was Bindung verletzt hat 

Eine der größten Erkenntnisse aus der Trauma-Forschung ist, dass Bindungsverletzungen nur durch Bindung heilen können. 
Keine Therapieform, kein Konzept ersetzt die Erfahrung, in einer echten Beziehung gehalten zu werden – verlässlich, achtsam und respektvoll. 

Das gilt besonders für Menschen, die in einem System von Gewalt und Zwang gelebt haben, in dem Nähe gleichbedeutend mit Kontrolle war. 
In der Ausstiegshilfe darf Bindung wieder etwas anderes bedeuten: Sicherheit, Freiheit, Würde. 

Hoffnung als Gegengewicht zur Kontrolle 

Ausstiegshilfe ist kein gerader Weg. Viele Überlebende gehen Schritte vorwärts und zurück – manchmal mehrmals. 
Doch jeder Moment echter Begegnung, jedes gehaltene Gespräch, jede respektvolle Grenze ist ein Stück Heilung. 

Bindung ist das, was TäterInnen zerstören – und was Helfende wieder möglich machen können. 
Deshalb ist jede Form von Beziehung, die Sicherheit, Würde und Selbstbestimmung stärkt, ein Gegenakt zu Gewalt. 

Denn wer in Gewalt gebunden war, kann nur in Freiheit heilen, wenn er wieder Bindung wagt. 

Übersicht der Forschung:  

An dieser Stelle herzlichen Dank an Jan Gysi und seinen hervorragenden Newsletter vom 15.09.2025 zu aktueller Forschung, dem wir diese Übersicht und auch die Zusammenfassung der wesentlichen Forschungsinhalte verdanken.  

Contreras, P. M., Wilson, N., Joseph, A., Valentine, S., Minahan, J., Reed-Barnes, S., Wightman, H., Dockery, J., Stahl, J., Kallivayalil, D., Kirsch, N., Waterman, B., Wilson, S., Greenberg, R. M., Carter, C., Eid, S., Ayala-Conesa, M. L., Sanchez, A., & Herlihy, L. (2025).  The roles of adult attachment and complex trauma in sex trafficking–related coercive bonding: Entry, entrapment, and the challenges of exiting. 

Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/tra0001951 

Lahav, Y., Cloitre, M., Hyland, P., Shevlin, M., Ben-Ezra, M., & Karatzias, T. (2025).  Complex PTSD and identification with the aggressor among survivors of childhood abuse.  

Child Abuse and Neglect, 160, Article 107196.  https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2024.107196 

 

Lohmann, S., Cowlishaw, S., Ney, L., O’Donnell, M., & Felmingham, K. (2024).  The trauma and mental health impacts of coercive control: A systematic review and meta-analysis.  

Trauma, Violence, & Abuse, 25(1), 630-647. https://doi.org/10.1177/15248380231162972 

Chambers, R., Gibson, M., Chaffin, S., Takagi, T., Nguyen, N., & Mears-Clark, T. (2024).  Trauma-coerced attachment and complex PTSD: Informed care for survivors of human trafficking.  

Journal of Human Trafficking, 10(1), 41-50. https://doi.org/10.1080/23322705.2021.2012386 

 

Shaughnessy, E. V., Simons, R. M., Simons, J. S., & Freeman, H. (2023).  Risk factors for traumatic bonding and associations with PTSD symptoms: a moderated mediation.  

Child Abuse & Neglect, 144, 106390. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2023.106390 

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