Teil 1: Warum Betroffene in Ausbeutung bleiben – Bindung, Kontrolle und Trauma-Coercive Bonding
Erklärt, wie Bindungstrauma entsteht und warum es so schwer ist, sich zu lösen.
Teil 2: Bindung als Schlüssel in der Ausstiegshilfe – Heilung braucht sichere Beziehungen
Zeigt, wie Bindung in der therapeutischen und sozialen Arbeit zur Grundlage nachhaltiger Befreiung wird.
Wer nie selbst in einer ausbeuterischen oder gewaltvollen Beziehung war, fragt sich oft: „Warum geht sie oder er nicht einfach?“
Diese Frage ist menschlich – aber sie verkennt, wie komplex die inneren und äußeren Fesseln sind, die Betroffene in solchen Strukturen halten.
Neue Forschungsergebnisse zeigen: Der Ausstieg aus Prostitution, Menschenhandel oder organisierter Gewalt hat nicht nur mit äußeren Zwängen zu tun, sondern tief mit Bindung.
Bindung ist ein menschliches Grundbedürfnis – sie gibt Sicherheit, Orientierung und Zugehörigkeit. Doch was passiert, wenn dieses Bedürfnis durch Gewalt, Manipulation und Angst pervertiert wird?
Die Studie von Contreras et al. (2025) benennt ein Phänomen, das vielen Fachkräften aus der Praxis vertraut ist: Trauma Coercive Bonding (TCB).
Dabei handelt es sich um eine durch Gewalt, Isolation und Manipulation erzwungene Bindung zwischen TäterIn und Opfer. Sie entsteht in einem System aus Angst, scheinbarer Zuwendung und völliger Kontrolle.
Betroffene erleben paradoxe Gefühle: Angst und Sehnsucht, Hass und Loyalität, Abscheu und Hoffnung – oft gleichzeitig. TäterInnen schaffen dies, indem sie extreme Angstphasen mit kurzen Momenten von Zuwendung oder „Belohnung“ abwechseln. Diese intermittierende Verstärkung hält Betroffene emotional gefangen.
Das Ergebnis ist eine traumabedingte Bindung, die so stark sein kann, dass sie sogar über physische Befreiung hinaus fortbesteht. Manche Überlebende berichten, dass sie sich schuldig fühlten, „ihre“ Täter zu verlassen – oder dass sie sich nach der Person sehnten, die ihnen am meisten Leid zugefügt hat.
Viele der in der Studie befragten Menschen wiesen unsichere oder desorganisierte Bindungsmuster auf – häufig das Ergebnis früher Gewalt, Vernachlässigung oder emotionaler Instabilität.
Diese Vorerfahrungen machen Menschen anfälliger für Täterstrategien, die genau an diesen Bindungswunden ansetzen.
Doch auch Betroffene mit sicherer Bindung können in TCB geraten. Die manipulativen Techniken der TäterInnen sind so ausgefeilt, dass sie selbst stabile Persönlichkeiten emotional brechen können – besonders in Lebensphasen von Krise, Verlust oder Einsamkeit.
Der Begriff „Stockholm-Syndrom“ wird oft verwendet, um die Loyalität von Opfern gegenüber TäterInnen zu erklären. Doch TCB beschreibt das Phänomen präziser: Es geht nicht um eine freie Entscheidung, sondern um eine durch Angst, Kontrolle und Trauma erzwungene Bindung.
Das ist keine psychische Schwäche – es ist ein Überlebensmechanismus.
TäterInnen, insbesondere im Menschenhandel, im Loverboy-System oder in organisierten Gewaltstrukturen, sind psychologisch oft hoch manipulativ.
Sie erschaffen emotionale Abhängigkeit, indem sie das Bedürfnis nach Nähe, Anerkennung und Liebe gezielt ausnutzen.
Mit jeder Runde aus Gewalt und „Versöhnung“ wird die Kontrolle dichter.
Das Opfer verliert zunehmend die eigene Handlungsfähigkeit – und irgendwann auch den inneren Kontakt zu sich selbst.
Diese erzwungene Bindung zerstört die Selbstwahrnehmung. Viele Überlebende berichten, dass sie sich selbst „verloren“ oder „wie betäubt“ fühlten.
Scham, Selbsthass und die Überzeugung, „mitschuldig“ zu sein, halten viele davon ab, Hilfe zu suchen.
Doch diese Scham gehört nicht den Betroffenen – sie ist Teil der Täterstrategie.
Nur wenn wir verstehen, wie tief Bindung, Angst und Kontrolle ineinandergreifen, können wir aufhören, zu fragen „Warum bleibt sie?“ – und anfangen, zu verstehen, warum sie nicht einfach gehen kann.
Im nächsten Beitrag geht es um den Weg hinaus – wie sichere Bindung, Vertrauen und traumasensible Begleitung Überlebenden helfen, sich aus Gewaltbindungen zu lösen.
Denn wer in Gewalt gebunden wurde, braucht Bindung, um frei zu werden.
An dieser Stelle herzlichen Dank an Jan Gysi und seinen hervorragenden Newsletter vom 15.09.2025 zu aktueller Forschung, dem wir diese Übersicht und auch die Zusammenfassung der wesentlichen Forschungsinhalte verdanken.
Contreras, P. M., Wilson, N., Joseph, A., Valentine, S., Minahan, J., Reed-Barnes, S., Wightman, H., Dockery, J., Stahl, J., Kallivayalil, D., Kirsch, N., Waterman, B., Wilson, S., Greenberg, R. M., Carter, C., Eid, S., Ayala-Conesa, M. L., Sanchez, A., & Herlihy, L. (2025). The roles of adult attachment and complex trauma in sex trafficking–related coercive bonding: Entry, entrapment, and the challenges of exiting.
Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/tra0001951
Lahav, Y., Cloitre, M., Hyland, P., Shevlin, M., Ben-Ezra, M., & Karatzias, T. (2025). Complex PTSD and identification with the aggressor among survivors of childhood abuse.
Child Abuse and Neglect, 160, Article 107196. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2024.107196
Lohmann, S., Cowlishaw, S., Ney, L., O’Donnell, M., & Felmingham, K. (2024). The trauma and mental health impacts of coercive control: A systematic review and meta-analysis.
Trauma, Violence, & Abuse, 25(1), 630-647. https://doi.org/10.1177/15248380231162972
Chambers, R., Gibson, M., Chaffin, S., Takagi, T., Nguyen, N., & Mears-Clark, T. (2024). Trauma-coerced attachment and complex PTSD: Informed care for survivors of human trafficking.
Journal of Human Trafficking, 10(1), 41-50. https://doi.org/10.1080/23322705.2021.2012386
Shaughnessy, E. V., Simons, R. M., Simons, J. S., & Freeman, H. (2023). Risk factors for traumatic bonding and associations with PTSD symptoms: a moderated mediation.
Child Abuse & Neglect, 144, 106390. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2023.106390
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